Sprachfindung aus Analogem und Digitalem

Michael Heischs Schlagzeugstück kykloi

von Stefan Drees[1]

»Eigentlich spricht nichts gegen die digitalen Abspiel- und Aufnahmegeräte. Die heutige Technik lässt in vielerlei Hinsicht fast keine Wünsche mehr offen. Seit ihrem Aufkommen verschwindet jedoch zunehmend auch das Rauschen - fast möchte ich sagen: das Eigenleben der Apparaturen - aus dem Klangbild. Und das ist schade.«[2] Diese Charakterisierung der Möglichkeiten und Auswirkungen digitaler Technologie durch den Schweizer Komponisten Michael Heisch zielt auf eine Problematik, die seit einiger Zeit zunehmend in der Musik, aber auch in anderen Künsten thematisiert wird: Jede qualitative Weiterentwicklung der Medientechnologie ermöglicht prinzipiell eine ›objektivere‹ Sichtweise auf die Abbildungsqualität abgelöster Techniken. In besonderer Weise trifft dies auf das Verhältnis von digitalen zu analogen Klängen zu, denn die Qualität digitaler Sounds mit ihrem perfektionierten Signal-Rausch-Verhältnis sensibilisiert uns in besonderem Maße für die Imperfektionen analoger Aufzeichnungen. Leider wird das rauschfreie digitale Signal jedoch im Zuge technologischen Fortschrittsdenkens vielfach als Maßstab an analoge Medienformate angelegt, ohne deren ästhetischen Eigenwert zu berücksichtigen. Dass die Spezifika analoger Signale jedoch auch künstlerisch eingesetzt werden können, und zwar im Sinne klanglicher Nuancen, die sich zudem mit den Objekten und den Umständen ihrer medialen Erzeugung verknüpfen lassen, ist ein Grundgedanke, den Heisch in seinem Komponieren immer wieder aufgreift.

Der Einsatz von semantisch konnotiertem Material, dessen Klang in technischer Hinsicht in abbildender Beziehung zu den ursprünglichen Bedingungen seiner Entstehung steht, und der darüber hinaus von Hörer zu Hörer ganz individuelle Assoziationen zulässt, zählt zu den grundlegenden Strategien von Heischs Komponieren. Exemplarisch hierfür ist die Tonbandkomposition Edison (1998), die durch digitale Aufzeichnungs- und Reproduktionsmöglichkeiten hindurch die objektbezogene Realität eines analogen Mediums zitiert: Grammophonklänge wie eine singende Männerstimme, Bruchstücke vom Spiel einer Violine oder das Geräusch der leerlaufenden Abtastnadel in der Endrille der Schelllackplatte bilden hier ein Geflecht dokumentarischer Klangsplitter, das die Komposition von Anfang an durchdringt. Der spezifischen Konnotation dieser Fragmente, die zur assoziativen Verkettung des Gehörten beiträgt - Heisch spricht in diesem Zusammenhang von einem »Kino im Kopf«[3] - steht als Gegenpol die Arbeit mit Klangmanipulationen und das Spiel mit den Erwartungshaltungen des Hörers gegenüber, das sich über kompositionstechnische Verfahrensweisen wie Montagen, Überlagerungen und abrupte Schnitte mitteilt. Das Werk pendelt so zwischen einer Präsentation der analogen Klangidentitäten einzelner ›objéts trouvés' und deren Musikalisierung mittels digitaler Nachbearbeitung und technischer Manipulation.

Ähnliche Verfahren spielen auch in Heischs Instrumentalmusik eine wichtige Rolle. Beispiel hierfür ist die Komposition kykloi für einen Schlagzeuger/Performer (2004), in der die Identität dokumentarischer Klangmaterialien, die - wie in Edison - einer bestimmten medialen Realität entstammen, in eine Auseinandersetzung mit Klängen instrumentalen und vokalen Ursprungs eingebunden wird.[4] Dass der Einsatz konnotierter Klänge hierbei gedanklich im Mittelpunkt steht, macht ein Zitat aus Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus deutlich, das Heisch im Vorwort zur Partitur als Motto zitiert: »Die Grammophonplatte, der musikalische Gedanke, die Notenschrift, die Schallwellen, stehen alle in jener abbildenden internen Beziehung zu einander, die zwischen Sprache und Welt besteht.«[5] Entsprechend nutzt Heisch die Klänge als Zeichen für die unterschiedlichen materiellen und medialen Realitäten seines Materials und bindet sie in eine Werkdramaturgie ein, die auf einer ungewöhnlichen Disposition des Instrumentariums beruht.[6]

Grundlage ist eine Reihe von Schlaginstrumenten, die durch Anwendung ungewöhnlicher Spieltechniken und Präparationen verfremdet werden. Es handelt sich dabei um je zwei kleine Trommeln mit und ohne Boden (mit Schnarrsaiten), ein grosses Becken (mittels Münze präpariert), eine Klangschale, fünf Sprungfedern von variabler Länge sowie eine Herdplatte, auf der perkussive Klänge erzeugt werden;[7] hinzu kommen unterschiedliche Schlagutensilien, deren Einsatz die Klangfarben wesentlich beeinflusst (etwa Schlagzeugsticks, Jazzbesen, Metallsticks, Tamtam-Schlägel, ein Superball, ein Reibstock, ein Metallspachtel). Diesen Klangerzeugern stehen mit einem Grammophon, einem Schallplattenspieler und einem Laptop (oder alternativ einem CD-Player) eine Gruppe von Reproduktionsmedien gegenüber, die für divergierende historische Aspekte medialer Klangproduktion stehen, und auf denen folglich Klangobjekte mit spezifischer Semantik zum Einsatz kommen. Für das Grammophon werden Schelllackplatten verwendet, die häufig - aber nicht ausschliesslich - auf der leeren Endrille laufen; indem Heisch außerdem den Akt des Kurbelns berücksichtigt, bezieht er prinzipiell die gesamte ›Aura‹ des Mediums mit allen Reproduktionsgeräuschen ein. Auf dem Schallplattenspieler kommen Vinylplatten zum Einsatz, die wie die Grammophonplatten zu sogenannten ›broken disks‹ umfunktioniert sind, also zerbrochen und anschliessend neu zusammengeklebt wurden, so dass beim Abspielen durch die Nadelführung sich wiederholende rhythmische Strukturen entstehen.[8] Konkreter an Inhalte gebunden ist die Handhabung der digitalisierten Klänge, die über den Laptop an verschiedenen Stellen in den Werkverlauf eingespielt werden. Diese elektronischen Tracks basieren auf dem Song Mexican Radio, gespielt von der Metall-Band Celtic Frost und lassen neben Fragmenten klar identifizierbarer Vokalpassagen elektronisch manipulierte Gitarrensoli erkennen.[9] Als letzte Ebene tritt schließlich die Sprechstimme des Performers hinzu, die dem Vortrag eines Textes dient, der »sich im Bereich des Verständlichen / Unverständlichen« bewegt und mehr erahnt als verstanden werden soll.[10] Heisch wählt hierzu einige Versfragmente aus dem dritten Akt von William Shakespeares Macbeth, die zwar noch Reste von begrifflicher Bedeutung aufweisen, deren ursprünglicher Sinnzusammenhang sich jedoch nicht mehr rekonstruieren lässt.[11]

Aufführung von kykloi,  © Isabella Branc

Mit der Wahl des Titels kykloi bezieht sich Heisch auf die tautologische Argumentation eines Zirkelschlusses[12] und charakterisiert damit die diskursive Struktur, mithin also die formale und dramaturgische Anlage seiner Komposition. Im Grunde handelt es sich um einen auf dem vorgegebenen Repertoire an Klangerzeugungsmodalitäten beruhenden Diskurs über differierende Klangzustände, der am Ende zwar wieder kreisförmig zur Kombination des Beginns - leerlaufende Schallplatte und kleine Trommel - zurückkehrt, zugleich aber auch schrittweise eine neue Ebene semantischer Bezüge erreicht. Denn im Gegensatz zum Beginn gewinnt im Werkverlauf der fragmentarische Mitteilungscharakter der Sprache an Bedeutung, während umgekehrt die rhythmisch sehr bestimmt artikulierten Impulse des Beginns in eher unbestimmte Reibelaute aufgelöst werden. Die Musik vollzieht also eine doppelte Spiralbewegung, die auf verschiedenen Ebenen zu einer modifizierten Anfangssituation zurückkehrt und dabei in unterschiedlichem Maße dem Einsatz der Klangerzeuger und dokumentarischen Klangobjekte verpflichtet bleibt. Die analogen und digitalen Klänge medialen Ursprungs konstituieren hierbei einen Akt der Sprachfindung, der eine hierarchische Ordnung vom unbestimmten Rauschen und Knacken des Grammophons über die rhythmischen Impulse der broken disks und die Klanggestalten der elektronisch zugespielten Tracks bis hin zum wortgebundenen Einsatz der Stimme durchläuft. Innerhalb dieses Sprachfindungsprozesses gewinnt das konkrete »Eigenleben der Apparaturen« zunehmend an Bedeutung gegenüber der Verwendung ausschließlich instrumentaler oder vokaler Klänge.[13]

Durch Konfrontation der perkussiven Klangspektren instrumentaler Provenienz mit Klängen wie dem Knistern der Schelllackplatten oder den kreischenden Feedbacks der eingespielten E-Gitarren werden daher nicht nur unterschiedliche Klangmischungen erzeugt, sondern zugleich auch die differierenden medialen Qualitäten analoger und digitaler Klangerzeuger als Mittel eines differenzierten Instrumentationsprozesses eingesetzt. Heisch erzeugt so voneinander abweichende Wertigkeiten objektbezogener Klänge, in denen die Konnotationen der jeweiligen Reproduktionsmedien einer fortwährenden Wechselwirkung mit den übrigen Klängen unterliegen. Es sind gerade die generell geräuschhaften und perkussiven Klangfarben der Schlaginstrumente, die diesen Zugriff wesentlich erleichtern. Die abweichenden Klangwertigkeiten der Reproduktionsmedien und der wortgebundenen Sprache werden dadurch letzten Endes zweitrangig, denn Heisch bindet sie in den zyklischen Diskus ein und verknüpft so das jeweils Eigene der gewählten Klänge zu einem übergeordneten Ganzen. Perkussive, analoge, digitale und vokale Klangbruchstücke werden dadurch in die Logik der musikalischen Verlaufsform eingebunden: Es entsteht eine Musik der Vermittlung, die sich auf die spezifischen Qualitäten der Instrumente und Klangerzeuger stützt und sie als Ausdrucksmodus erfahrbar, aber auch in ihrem ästhetischen Eigenwert erkennbar zu machen versucht.


© 2006 by Stefan Drees; Abdruck - auch in Auszügen - nur nach Rücksprache mit dem Autor.


Anmerkungen:

[1] Mit Kürzungen und Veränderungen in den Fußnoten erschienen in: Positionen Nr. 68, August 2006, S. 32-33. [Zurück]

[2] Das Zitat stammt aus einem persönlichen Gespräch mit dem Komponisten. [Zurück]

[3] Michael Heisch im Gespräch mit Walter Kläy, Porträtsendung des DRS 2 vom 14. März 2002. [Zurück]

[4] Die Partitur des Werkes kann über den Musikverlag Müller & Schade in Bern bezogen werden. [Zurück]

[5] Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philososphicus, in: Werkausgabe Band 1: Tractatus logico philosophicus - Tagebücher 1914-1916 - Philosophische Untersuchungen, Suhrkamp: Frankfurt am Main 1984, S. 7-85, hier S. 27 (Satz 4.014). [Zurück]

[6] Notationstechnisch legt er dabei eine space notation zugrunde, die den zeitlichen Verlauf in Schritten zu je fünf Sekunden fixiert (insgesamt 640 Sekunden) was »lediglich einer sehr groben Orientierung« dient und vom Interpreten »stellenweise straffer oder lockerer« ausgelegt werden kann (zitiert nach dem Vorwort zur Partitur). [Zurück]

[7] Der Interpret träufelt Wassertropfen darauf, die durch die Hitze verzischen und dadurch eine in ihrer Dichte manipulierbare Klangkaskade erzeugen. [Zurück]

[8] Der Inhalt der Schelllack- und Vinylplatten ist vom Komponisten nicht vorgegeben. [Zurück]

[9] Mit Phrasen wie »Can't understand just what does he say?« oder »I understand just a little / No comprende, it's a riddle« thematisiert der Songtext die Unverständlichkeit eines fremdsprachigen Radioprogramms. [Zurück]

[10] Zitiert nach dem Vorwort zur Partitur. [Zurück]

[11] Sie entstammen der »Hekate«-Szene des dritten Aktes (Szene V, Vers 2-33): »beldams as you are« (Vers 2, Partitur 255'' bis 275''), »saucy and overbold« (Vers 3, Partitur 235'' bis 245''), »in riddles and affairs of death« (Vers 5, Partitur 380'' bis 395''), »and I, the mistress of your charms« (Vers 6, Partitur 430'' bis 445''), »at the pit of Acheron« (Vers 15, Partitur 530'' bis 545''), »and you all know, security is mortals' chiefest enemy« (Vers 32-33, Partitur 620'' bis 640''); das Wort »bitch?« (Partitur 555'') ist eine Hinzufügung des Komponisten. [Zurück]

[12] »kykloi« als Plural des griechischen »kyklos« = Kreis, Zirkel. [Zurück]

[13] Dass sich dies auch über die gestischen Komponenten der Aufführung, also über des Hantieren mit den diversen Medien und Instrumenten vermittelt, sei hier lediglich am Rande erwähnt. [Zurück]


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