Musik der Diskontuitäten

Gordon Kampes Orchesterstück High Noon: Moskitos

von Stefan Drees [1]

Daß Musik primär über die ästhetische Erfahrung erschlossen werden sollte, ist eine Selbstverständlichkeit, die jedoch angesichts des verbalen Eifers, mit dem mancher Zeitgenosse seine Arbeiten theoretisch zu legitimieren sucht, bisweilen in Frage gestellt wird. Der Komponist Gordon Kampe kommentiert seine Werke kaum, was vielleicht als eine Art Eingeständnis zu verstehen ist, der begriffsorientierten, mit Metaphern arbeitenden Sprache nicht so sehr zu vertrauen wie der Musik selbst, diese vielmehr als begriffslose Kunst ausreichend über sich Aufschluß zu geben vermag und des erklärenden Kommentars nicht wirklich bedarf.

Gordon Kampe, geboren 1976, der zu den interessantesten Komponisten der jüngeren Generation gehört, studierte Komposition bei Hans-Joachim Hespos und Adriana Hölszky an der Hochschule für Musik und Theater in Rostock (1998-2000) sowie bei Nicolaus A. Huber an der Folkwang Hochschule Essen (2000-03). In seinen Werken verbindet sich die Vorliebe für konnotativ aufgeladene Klänge und imperfekte Klangerzeuger aus dem Bereich der Alltagsgegenstände mit theatralischen Elementen, die von besonderen Vortragsanweisungen bis zum szenischen Agieren reichen.

Jenes Mißtrauen der Sprache gegenüber findet paradoxerweise Eingang in die Sprache selbst, wie der scheinbar harmlosen Notiz im Vorwort der Partitur von Kampes Orchesterstück High Noon: Moskitos (2003, revidiert 2006) zu entnehmen ist.[2] Gibt sie doch vor, über Entstehung und Charakter der Komposition Auskunft zu geben, indem sie gerade die einem begrifflichen Verständnis entgegen gerichtete, metaphernreiche (und letztlich nichtssagende) Ausdrucksweise schlechten musikjournalistischen Jargons benutzt und ironisch gegen sich selbst ausspielt: »Das Orchesterstück High Noon: Moskitos ist ein klebrig-schwirrend gepixxeltes Stück. Entstanden zumeist in der extremen Hitze des Sommers 2003. Es ist ein sehr schnell schwül-rhythmisches und häufig fragiles Stück: Atemgeräusche und (manchmal tonale) Klang-Schatten schwirren vorbei oder kleben bewegungslos in der Zeit.«[3] Ein solcher Text, wie der Titel selbst im Anschluß an den Kompositionsprozeß entstanden, bietet keinerlei Erklärung sondern delegiert den Hörer durch die Thematisierung einer körperlichen Komponente – der »klebrig-schwirrend gepixxelten« Erscheinungsweise – an die Musik. Daß Titelgebung und ironischer Kommentar allerdings dazu beitragen, die Wahrnehmung in bestimmte Bahnen zu lenken, erweist sich als Korrespondenz zu einer Reihe abstrakt formulierter Vortragsanweisungen in der Partitur. Deren Ziel ist weniger die Rekapitulation angelernter musikalischer Verhaltens- und Ausdrucksmuster, als die Anregung ungewohnter Gestaltungsweisen, da sie den Musiker dazu auffordern, sich in ein bestimmtes Verhältnis zum Komponierten zu setzen. Gleich zu Anfang heißt es da, die Ausführenden sollen »bröselnd« (T. 1) spielen, später überschreibt Kampe die Abschnitte mit »zwirblig geschlabbert« (T. 30), »etwas fiebrig« (T. 57) und »etwas verpixxelt« (T. 70) oder gibt Aktionsbeschreibungen wie »wild, kraß, mit tüchtig Schmackes« (T. 180) und »spitz, vollkommen ausrasten« (T. 171). In allen Fällen ist die Fantasie angesprochen, auf der einen Seite jene des Musikers, den diese Worte zur Gestaltung der Klanggebung anregen sollen, auf der anderen Seite jene des Hörers, der – vermittelt über die Aktionen – den Klangresultaten nachlauschen kann.

In der Tat erweist sich die Musik als beredt genug, um aus sich heraus ein Bedeutungsgefüge zu generieren. Kampe entwirft auf Grundlage des gewählten musikalischen Materials ein ästhetisches Gebilde, dessen charakteristischster Grundzug der nicht-narrative Umgang mit der Form ist. Entsprechend illustriert High Noon: Moskitos stellvertretend für andere Kompositionen Kampes, »daß jederzeit alles möglich ist, und zwar in dem Sinn, daß es keine fest gefügten Formen gibt, die ich mir schon vorher zurecht gelegt habe, und daß zu jeder Zeit immer alles passieren könnte, wenn ich meine, daß es passieren soll«.[4] Jene strukturellen Elemente, wofür in anderen Arbeiten des Komponisten Werktitel stehen, die sich auf die Welt filmischer Science-Fiction-Entwürfe à la Star Trek oder Alien beziehen und dort als »Metaphern-Maschinen« für die Unwägbarkeiten eines vorab festgelegten Zeit- und Verlaufsgerüsts dienen, finden sich auch im groß besetzten Orchesterstück. Denn auch diese Partitur exemplifiziert, daß zu jeder Zeit musikalisch Unvorhergesehenes passieren kann. Kampe kalkuliert die plötzliche Wendung mit ein, macht die Diskontinuität zum Stilmittel, das sich musikalisch etwa im Auftauchen unerwarteter Ereignisse, Texturen, Einschübe, ungewöhnlicher Aktionen oder Instrumentalsoli manifestiert. Diese fragmentarisieren eher den komponierten Kontext, als daß sie im Sinne eines übergreifenden Ordnungskriteriums vereinheitlichend wirken.

Diesem Prinzip entspricht etwa die Konturlosigkeit, die den Beginn von High Noon: Moskitos bestimmt: Kaum jemals gewinnen musikalische Aktionen als Motive oder Figuren greifbare Gestalt, sich verfestigende Rhythmen, die zur Stabilisierung des Satzgewebes beitragen könnten, verlieren sich sofort wieder (vgl. Schlagzeug T. 1-2, Blechbläser T. 10-15) und sorgen dafür, daß die Musik immerfort in Bewegung bleibt. Der hiermit verknüpfte Wechsel musikalischer Gesten addiert sich jeweils zu Texturen von unterschiedlicher Dichte und Komplexität, deren Abfolge die Gesamtheit des musikalischen Verlaufs ausmacht. In ihnen wirken einzelne Komponenten wie Klangattacken, Rhythmusmuster oder Bewegungsimpulse so zusammen, daß sich irregulär strukturierte und zumeist richtungslose Ereignishäufungen ergeben. Kampe verstärkt diesen Eindruck noch, indem er die Irregularitäten bisweilen innerhalb instrumentaler Schichten (Holz- oder Blechbläser, Schlagzeug, Streicher) anordnet und sie, wiederum mit anderen Schichten kontrastierend, zu einer Polyphonie orchestraler Texturen ausweitet.

Der hierauf basierenden Abschnittsbildung ist das Moment des Unerwarteten eingeschrieben: Da sind etwa die auf approximativer Tonhöhe mit viel Luft eingefärbten Pfeiftöne sämtlicher Bläser (T. 54-69: »Wie ein leises, unbestimmt und nebenbei gepfiffenes Liedchen«), deren überraschender Einsatz dem als »schattenhaft« markierten, die Theatralik hervorkehrenden Spiel der Streicher »an der Hörgrenze« (Anweisung »immer hektisch verzwirbeln«) kontrapunktisch gegenübersteht. Da ist ferner die knappe, ins musikalische Gewebe der viergeteilten Violinen eingeblendete Anspielung auf Mendelssohn Bartholdys Sommernachtstraum-Ouvertüre (T. 78-81), deren charakteristischer Gestus danach beibehalten und – über vereinzelten Haltetönen der Bläser – auf den gesamten Streichersatz ausgeweitet wird (T. 82-92: »nervös schwirren«), um sich schließlich ebenso rasch von einer Tutti-Attacke (T. 92) wegwischen zu lassen. Oder da ist die »unglaublich zart« von Vibraphon und Violinen vorgetragene Kantilene im ppp, die aufgrund ihrer extremen Höhe bei gleichzeitiger Hinzufügung obertonreicher Quartflageoletts und rhythmischer Heterophonie zwischen den Einzelstimmen ihre Konturen als Melodie verliert und fast zur reinen Klangfarbe wird (T. 148-159), bevor ihr als Gegenpol der als »warm« beschriebene Klang leerer G-Saiten folgt, der durch Holz- und Blechbläser punktuell abgefärbt wird, was zu räumlich wahrnehmbaren Wechseln der Klangperspektive führt (T. 159-169). Am Ende des Stückes folgt dann gar der Umschlag in eine »Radikalcoda«,[5] in der es zu dem kommt, was dem Hörer sonst vorenthalten bleibt: zu einer allmählichen Verfestigung des Orchestersatzes im Sinne zunehmender rhythmischer Stabilität. Denn über mehrere Stadien hinweg wird erstmals eine Ereigniskette in Gang gesetzt, die sich als prozeßhaft wahrnehmen läßt: Ausgehend von zunächst irregulären, weil nicht auf ein Metrum bezogenen, dann aber zunehmend regelmäßiger werdenden Plektrum-Schlägen, die in ein normales Pizzicato im Tempo Viertel = 180 übergehen (T. 179-191, »wild, kraß, mit tüchtig Schmackes«), folgt kurz danach das Alternieren von Brummtöpfen in regelmäßigen Achteln (T. 220-227), bis schließlich über eine längerer Passage hinweg durchlaufende Achtel hervortreten (T. 254-274, »fetzen, immer voran«). Doch auch hier siegt letzten Endes die Unvorhersehbarkeit, setzt sich im überraschenden Abbrechen des Schlußtaktes (T. 280, »plötzlich verschwinden«) erneut die Tendenz zur Diskontinuität durch.

Daß die skizzierten Umschwünge sich wie theatralische Momente ausnehmen, hat nicht nur mit Kampes instrumentaler Schreibweise, sondern auch mit dem kalkulierten Einsatz von Sprache zu tun und führt damit zum Beginn dieses Textes zurück: Denn zur Plastizität der Musik trägt neben dem facettenreichen Umgang mit den Möglichkeiten des ausgedehnten Orchesterapparats auch jene zu Beginn angesprochene, wohlüberlegte Formulierung von Vortragsbezeichnungen bei, die als Handlungsanweisungen für die Musiker gedacht sind. Sie erfordern einen interpretierenden Ansatz, eine Lesart, die dem Ausführenden einen Bezug auf die ihnen zugeordneten musikalischen Ereignisse erst ermöglicht. Der Musiker wird also auf der verbalen Ebene gleichsam provoziert, um dem Prozeß des Umsetzens solcher Notate ein instrumentales Agieren eine bestimmte Richtung zu verleihen. Trotz Kampes Verzicht auf narrative Kontexte tritt gerade hierdurch die kommunikative Funktion der Musik in den Mittelpunkt, denn die quasi theatralischen Vortragsbezeichnungen verleihen der Musik eine höchst emotionale Komponente, die sowohl aus der unmittelbaren Klangwahrnehmung als auch aus den visuellen Begleiterscheinungen der Klangproduktion erwächst. Damit werden in der Aufführungssituation die Voraussetzungen für eine ästhetische Erfahrung geschaffen, die zur Absicherung keines theoretisierenden Werkkommentars mehr bedarf, sondern dessen Stelle frei werden läßt für ein ironisches Sprachspiel.


© 2007 by Stefan Drees; Abdruck - auch in Auszügen - nur nach Rücksprache mit dem Autor.


Anmerkungen:

[1] Abgedruckt in: Positionen Nr. 71, Mai 2007, S. 44-46. [Zurück]
[2] Für das Werk erhielt Gordon Kampe den 52. Stuttgarter Kompositionspreis (2007). [Zurück]
[3] Vorwort zur Partitur Edition Juliane Klein (EJK 0142), Berlin 2006, o. S. [Zurück]
[4] Gordon Kampe im Gespräch mit dem Autor. [Zurück]
[5] Ebd. [Zurück]


zurück zur publikationsliste